10

 

Der Tag im Kreise der Irren und ihrer animalischen Seelentröster war ziemlich trostlos verlaufen. Ich hatte mich aus den Tiefen der Anstalt in den Korridor zurückgezogen, weil ich die von den fünf Ärzten betriebene Folter an dem alten Refizul nicht mehr mit ansehen konnte. Hin- und hergerissen zwischen Wut und Verzweiflung, trieb ich mich bei den Nonstop-Psychotikern herum, doch selbst ihr bizarres Treiben ließ mich völlig kalt. Mir wollte einfach nicht in den Kopf, daß heutzutage solch vorsintflutliche Einrichtungen ohne irgendeine staatliche Kontrolle überhaupt existieren konnten. Denn wenn man den allgegenwärtigen Schmutz und unbehandelten Wahnsinn ringsherum so betrachtete, wähnte man sich leicht im Mittelalter. Und hier wurden nachweislich Menschen mißhandelt, ohne daß von ihnen eine Gefahr für die Allgemeinheit ausging. Mehr und mehr, um nicht zu sagen, immer radikaler, machte ich mir Refizuls Ansicht zu eigen, daß es sich bei dieser Institution um eine gut abgeschirmte Müllhalde handelte, in der böse Mächte ihnen Mißliebige klammheimlich entsorgten. Wenn schon einer wie Refizul, der nichts anderes verbrochen hatte, als mit Tieren zu reden, einkassiert und so schlimm gequält wurde, welchen bedeutenden Interessen hatten wohl die anderen Irren im Wege gestanden? Nein, die isolierte Lage der Anstalt und die in ihr herrschenden Behandlungsmethoden sprachen eine eindeutige Sprache: Hier ging etwas Ungeheuerliches vor, hier wurden Patienten ihrer elementarsten Rechte beraubt und in Raten vernichtet.

Während ich völlig apathisch in einer Ecke des wie von verwirrten Gespenstern heimgesuchten Zellentrakts den Dösenden gab, kam Efendi zu mir. Der rabenschwarze Artgenosse, der in seinem ganzen Wesen einem hyperaktiven Kind glich und sowohl für seine menschliche als auch für seine animalische Klientel immer einen aufmunternden Spruch auf den Lippen hatte, rieb seinen Kopf tröstend gegen meinen.

»Du wirst mir doch wohl nicht schon am ersten Tag in diesem Puff schlappmachen, Alder«, sagte er. Seine dunklen Schnurrhaare zuckten wie Kabel einer Überlandleitung bei starkem Wind. Das keilförmige Gesicht mit den wie von innen beleuchtet wirkenden, goldfarbenen Augen schien einen beständig zu scannen.

»Laß mich zufrieden, Efendi. Ich muß mich zunächst einmal an das ganze Elend gewöhnen. Wenn ich überhaupt in der Lage dazu bin.«

»Ach, so schlimm ist es auch wieder nicht, Alder. Wir haben manchmal total lustige Tage hier. Letztens haben sich gleich drei Julius Cäsar in die Haare gekriegt und Anspruch auf Germanien erhoben. Bis zwei Napoleons ein Machtwort sprachen.«

»Es will mir nicht in den Kopf, wieso ihr nichts gegen die barbarische Unterdrückung unternehmt. Ich meine, was die Menschen betrifft, sind die ja offenkundig sehr krank und leben in einer Wahnwelt. Aber zumindest unseresgleichen scheint doch noch völlig bei Verstand zu sein.«

»Was sollen wir schon unternehmen? Wir sind alle freiwillig hier. Auch die Patienten.«

Ich glaubte, meinen Ohren nicht zu trauen. Wer in dieser Hölle auch nur drei Minuten freiwillig verbrachte, war in der Tat nicht bei klarem Verstand.

»Ihr seid freiwillig hier? Heißt das, ich kann jeden Moment hinausspazieren und werde nicht sofort von einem dieser Gorillas gegen die Wand geklatscht?«

»Na klar doch, Alder.« Efendi ließ sich vor mir nieder und warf ein aufwendiges Putzprogramm an. Obwohl die Bekloppten sowie ihre Seelenverwandten im Fellkleid um uns herwuselten und ein nie abebbendes Stimmengewirr zu vernehmen war, zog der Schwarze die Putzerei so locker durch, als befände er sich gerade am Rande eines Swimmingpools unter rauschenden Palmen auf den Bahamas. Zunächst nahm er sich die Hinterpfoten vor, harkte mit den Zähnen die Krallen gründlich durch und brachte anschließend mit der Zunge die Haare an den Unterschenkeln in Fasson. Es wirkte ansteckend, und da ich mich nicht mehr entsinnen konnte, wann ich mich zum letzten Mal der Körperpflege gewidmet hatte, tat ich es ihm gleich.

»Fragt sich nur, wo du hinwillst, nachdem du hier rausspaziert bist«, fuhr Efendi fort. Jetzt kam der Bauch dran. In einer Kombination aus Lecken und Kämmen mit den Zähnen schaffte er es in kürzester Zeit, diesen Bereich samtig strahlen zu lassen. »Wir alle haben ein hartes Schicksal und zumeist eine blutige Vergangenheit hinter uns. Du vermutlich auch. Ich zum Beispiel bin einem echten Massaker entronnen.«

»Moment mal«, sagte ich und unterbrach das Putzen. »Du bist auch einem Massaker unter Artgenossen entkommen?«

»So sieht's aus, Alder. Jeder hier wird dir eine ähnliche Story verklickern. Wir alle haben einmal in Gemeinschaften gelebt, bis diese plötzlich ausgerottet wurden. Ich selbst habe nur mit knapper Not ein Gemetzel in einem Tierheim überlebt, als mich Refizul gerettet hat.«

»Wer verübte das Gemetzel?«

»Keine Ahnung. Es war in der Nacht, und als ich aufgewacht bin, waren alle tot. Ich werde nie den metallischen Geruch von Blut in meiner Nase vergessen, das aus all den aufgerissenen Wunden geströmt ist. Und nie werde ich den Anblick der reglosen Körper in den Gehegen überwinden. Es sah aus wie ein Teppich des Grauens.«

»Wieso wurdest du verschont, Efendi?«

»Refizul ist plötzlich aufgetaucht. Ich war verwirrt und geschockt und kann mich an den Ablauf der Geschehnisse nur dunkel erinnern. Er war wohl wegen seiner Studien unterwegs.«

»Er hat mit dir gesprochen.«

»Ja ... Das heißt, ich will dir mal unter uns Pfarrerstöchtern ein Geheimnis anvertrauen, Alder.« Er rückte ganz nah an mich heran und blickte sich konspirativ um, als fürchtete er, daß man ihn belauschen könne. Dann senkte er die Stimme auf Flüsterton-Level. »Also, wenn du mich fragst, sprechen wir gar nicht miteinander. Dieses ganze Gequatsche zwischen Mensch und Tier ist eine ziemlich einseitige Angelegenheit, weißt du.«

»Wie meinst du das?«

»Die Menschen können gar nicht mit uns sprechen. Wir sprechen mit ihnen. Das ist ein großer Unterschied, Alder. Sie verstehen uns bloß, mehr nicht. Und aus dem, was sie mitkriegen, reimen sie sich einen Sinn zusammen. Aber ich hab schon ein paar Mal gemerkt, daß sie nicht fähig sind, jedes Tier zu verstehen. Wir hier drinnen scheinen wohl die Ausnahme zu sein, etwas Besonderes, wenn du so willst.«

Das klang ziemlich verrückt. Doch schließlich befand ich mich in einem Irrenhaus, wo der Wahnsinn sich ungehindert entfalten konnte. Die Annahme lag nahe, daß er einer Infektion gleich vom Mensch aufs Tier übergesprungen war. Denn wenn sich Efendi auf gar keinen Fall in eine bestimmte Schublade stecken ließ, dann nicht in die, auf der das Etikett »normal« klebte. Allerdings ... Auch mir war aufgefallen, daß sich Refizuls Lippen, aber ebenso die der anderen Zweibeiner im Plausch mit meinesgleichen kaum bewegten. Es handelte sich eher um einen Vorgang zwischen lautem Denken und mühseligem Artikulieren. So etwas wie Gedankenübertragung war mir in diesem Zusammenhang ebenfalls in den Sinn gekommen. Das allerdings irgendwie logisch erklären zu wollen entbehrte selbst einer Logik, war doch die ganze Sache an sich reichlich widersinnig, oder, um beim Thema zu bleiben, total irre. Aber es wurde noch irrer.

Efendi rückte noch dichter an mich heran, so daß sich unsere Nasenspitzen beinahe berührten. »Und soll ich dir noch etwas verraten, Alder?« flüsterte er und warf wieder seine blitzschnellen Kontrollblicke um sich. »Ich habe das komische Gefühl, daß diese Bekloppten auch nicht ganz echt sind.«

»Verstehe ich nicht.«

»Tja, wie soll ich das beschreiben, manchmal kommt es mir so vor, als wären sie gar keine richtigen Menschen. Sie sind sehr nett zu uns und so, geradezu zärtlich, und was das Futter angeht, also, wirklich immer nur erste Sahne. Doch ob du es glaubst oder nicht, sie selbst habe ich nie etwas fressen sehen. Ich weiß gar nicht einmal, ob es hier eine Kantine gibt. Manchmal kommen sie mir wie Zombies vor, Zombies mit geisteskrankem Getue. Allein in Refizul steckt noch Feuer. Aber sonst ... na ja, sonst geht es recht lustig zu in diesem Puff.«

Efendi beendete seine rigorose Putzaktion und verschwand zwischen den wirre Selbstgespräche führenden Greisen und den Spitzohren, welche wie Zierfische in einem besonders gruselig geschmückten Aquarium umherflitzten. Ich verfiel erneut in Apathie. Der schwarze Flüsterer hatte das Rätsel eher verkompliziert als zu einer Lösung beigetragen. Es wollte alles keinen Sinn ergeben. Die Morde im Brunnenbecken nicht, dieses mittelalterliche Anstaltsleben nicht, die Kommunikation zwischen den Arten nicht und schon gar nicht Efendis verschwörungstheoretische Andeutungen. Nichts, aber auch gar nichts paßte zusammen. Zwar redete ich mir weiterhin irgendwelche pseudoschlüssigen Erklärungen ein, doch offen gesagt glaubte ich selbst nicht dran.

Irgendwann am späten Abend schleppten Zack und der Panzermann Refizul von seiner Therapie zu uns in den Zellentrakt zurück und warfen ihn auf eine Pritsche in einer der kärglichen Zellen. Er schien bewußtlos zu sein und lag da wie ein Bündel schmutziger Wäsche. Es wunderte mich, daß die Irrenschar, die ihn anfangs so enthusiastisch begrüßt hatte, davon nun überhaupt keine Notiz nahm. Im Gegenteil, der arme Mann schien für sie plötzlich unsichtbar geworden zu sein. Das Verhalten erinnerte mich an das von besonders verrohten Kreaturen, die dem Starken blind die Führung bescheinigen, wohingegen sie den Schwachen bedenkenlos aus ihrer Mitte verbannen.

Ich lief schnell in die Zelle, in der sich außer der Pritsche noch ein winziges Tischlein befand, und sprang auf den Bauch des wie schlafend wirkenden Alten. Mittlerweile waren überall von der Decke baumelnde, nackte Glühlampen angegangen, die jedoch mehr schummrige Düsternis als wirkliche Helligkeit in den Ort brachten. Durch das Fenster mit dem wuchtigen Kreuzgitter sah man den silbrig strahlenden Vollmond. Refizul sah wirklich schlimm aus. Sein runzeliges Gesicht zuckte manchmal, als erhielte er immer noch Stromstöße, und er machte irgendwie einen geschrumpften Eindruck. An seinen Schläfen, wo man die Elektrozange angesetzt hatte, zeichneten sich graue Flecken ab. Zumindest hatten sie ihn jetzt in eins der offenkundig hier so beliebten langen Nachthemden gesteckt, wenn auch in ein stark verdrecktes. Seine langen grauen Haare sahen aus wie faulig gewordenes Stroh. Wir beide mußten schon ein trauriges Bild abgeben zwischen den kahlen Mauern. Ich hätte wieder in Tränen ausbrechen mögen, doch etwas sagte in mir, daß in dieser Situation Verzweiflung und Selbstmitleid die denkbar schlechtesten Ratgeber wären. Obwohl mich Efendis Mutmaßungen ziemlich verwirrt hatten, wischte ich in einem Anfall von Aufbegehren alle Zweifel beiseite. Ich stupste mit beiden Vorderpfoten gegen Refizuls Gesicht, damit er aufwachte und etwas unternahm, egal was. Hauptsache, er überließ sich und mich nicht diesem trostlosen Schicksal.

Langsam kam er zu sich, doch er war von der Folter derart erschöpft, daß er gerade mal die Augen aufbrachte und die Lippen bewegen konnte. Vermutlich besaß er lediglich eine ungefähre Ahnung davon, wo er sich befand. »Dude?« stieß er schließlich mit gebrochener Stimme hervor.

»Ja, ich bin es, Dude«, antwortete ich aufmunternd. »Mann, dich haben sie ja mächtig in die Mangel genommen.«

»Kann man wohl sagen, lieber Freund. Wie ist es dir denn in der Zwischenzeit so ergangen?« Er schaffte es, sich ein wenig aufzurichten, und schaute sich desorientiert um.

»Ganz prima«, sagte ich. »Efendi hat mir einige Sachen erzählt, während du, nun ja, beschäftigt warst. Hört sich alles ziemlich schräg an. Wie dem auch sei, ich habe mit angesehen, was diese perversen Ärzte mit dir angestellt haben. Du hattest recht, die Gegenseite benutzt diesen entsetzlichen Ort als Endlager für ihre besiegten Feinde. Aber Lamentieren ist Zeitverschwendung. So wie es aussieht, bin ich der einzige hier, dessen Hirn noch nicht zu Pudding geworden ist. Und dieses Hirn hat soeben beschlossen, daß wir einen Ausbruch wagen werden. Noch heute nacht!«

Zunächst dachte ich, daß Refizul von einem Hustenanfall geschüttelt wurde. Er prustete im abgehackten Rhythmus los, wobei die Brust ruckweise auf- und abfuhr. Ein kratziges Geräusch entrang sich seiner Kehle, welches sich sukzessive zu einem rauhen Bellen steigerte. Schließlich kulminierte das Ganze in einem brüllenden Gelächter.

Verständlicherweise zog ich ein beleidigtes Gesicht. »Was gibt es da zu lachen?« fragte ich. Am liebsten hätte ich kehrtgemacht und ihn und seine bekloppte Gefolgschaft sich selbst überlassen. »Glaubst du, es ist gottgegeben, daß du, diese kranken, alten Leute und meine Artgenossen für immer und ewig in dieser Hölle schmoren müssen?«

»Ja, irgendwie schon«, sagte Refizul. Er lachte jetzt nicht mehr. Statt dessen bemächtigte sich eine tiefe Niedergeschlagenheit seines eh schon abgewirtschafteten Gesichts, wie ich sie noch bei keinem Menschen gesehen hatte. Trotzdem schaffte er es, den Oberkörper vollständig aufzurichten, so daß er auf der Pritsche eine sitzende Stellung einnahm. »Wie eine Strafe Gottes kommt es mir jedenfalls vor.«

»Nein, nein und nochmals nein! Damit kann ich mich nicht abfinden. Efendi sagte, daß alle freiwillig hier sind.«

»Efendi pflegt sich bisweilen mißverständlich auszudrücken. Liegt wahrscheinlich daran, daß er hier schon zu lange vor sich hinvegetiert. Es gibt einen fundamentalen Unterschied zwischen freiwillig und freiwillig, mein lieber Freund. Kennst du die Geschichte von dem Sklaven, der so lange ein Sklave war, daß er vor lauter Furcht vor der Freiheit seinem Herrn weiterhin als Sklave dienen wollte, obwohl dieser ihm die Freiheit schenken wollte? Sowohl die Menschen als auch die Tiere in diesem Kerker sind über so viele Jahre mißhandelt, eingeschüchtert und ihres Willens beraubt worden, daß sie sich ein Leben draußen nicht mehr vorstellen können. Allein der Gedanke an eine Auflehnung gegen ihre Peiniger grenzt schon an ein Sakrileg.«

»Aber dich hat man doch sogar zwischenzeitlich entlassen.«

»Und was hat es mir genützt? Irgendeinen Grund, der den Patienten vor sich selber schützen soll, finden diese Ärzte doch immer.«

Ich sprang von dem Bett und begann, auf dem aus abgewetzten Steinquadern bestehenden Boden auf und ab zu gehen. Im Silberlicht des Vollmondes warf mein Körper überlange Schatten. »Niemals!« sagte ich voller Pathos. »Ich weigere mich, zu akzeptieren, daß die Tyrannei triumphiert. Sklaverei ist längst abgeschafft, und wer sich mit ihr arrangiert, verdient nichts anderes, als ewig Sklave zu bleiben. Aber wir können versuchen, die Augen der Sklaven zu öffnen. Es muß verdammt noch mal eine Möglichkeit geben, wie wir dieser Jauchegrube entfliehen können.«

»Die gibt es auch«, sagte Refizul. Ich war so in meine Spartakus-Phantasien vertieft, daß ich ihn während meiner nervösen Wanderung fast völlig ausgeblendet hatte. Der überraschende Zwischenruf ließ mich zu ihm aufschauen. Refizul, der eben noch wie ein Häufchen Elend auf der Pritsche gelegen hatte, stand runderneuert vor mir. Ich war baff und fühlte mich wie in einem Film, den man um ein gutes Stück vorgespult hat. Der Alte schien jäh von einer mysteriösen Frische ergriffen worden zu sein. Die Falten in seinem Gesicht hatten sich weitestgehend geglättet, die schulterlangen grauen Haare sahen aus, als hätten sie eine spektakuläre Begegnung mit den Künsten eines erstklassigen Coiffeurs hinter sich, und statt der deprimierenden Trübe von vorhin glühte wieder das stechende Blau in seinen Augen. Sogar die grauen Abdrücke der Elektroschockzange an den Schläfen waren verschwunden. Das einzige, was sich nicht verändert hatte, war das lächerliche Nachthemd, in dem er steckte.

»Es gibt da tatsächlich einen Weg, die Freiheit zu erlangen, mein Freund«, sagte Refizul, während ich noch damit beschäftigt war, aus dem Staunen herauszukommen. Doch vielleicht bildete ich mir diese Turbo-Genesung auch nur ein. Wahrscheinlich war er von meinem revolutionären Elan so angesteckt worden, daß sein Körper auf psychosomatischem Wege eine positive Metamorphose durchlaufen hatte. »Wir besitzen gegenüber der feindlichen Seite einen Trumpf.«

»Aha. Und welchen?«

»Wir müssen einen Pakt schließen. Einen unkündbaren. Denn wir beide sind die einzigen, die noch den Willen besitzen, das Joch abzuschütteln.«

»Wir brauchen gar nichts zu schließen. Wir können es einfach tun.«

Refizul lächelte milde, als hätte er einen Schwachsinnigen vor sich, dem man erst umständlich erklären muß, daß auf den Tag die Nacht folgt. »Es hat keinen Sinn, Dude, etwas zu wollen, ohne daran mit ganzem Herzen zu glauben und es mutig kundzutun. Genausowenig kann man einen Sklaven einfach in die Freiheit entlassen, wenn dieser sich nicht als ein freies Individuum begreift. Er mag sich nach seiner Freilassung zwar durchaus als frei empfinden, aber schon bei der ersten Versuchung verwandelt er sich zurück in einen Sklaven. Was ich damit meine, ist folgendes: Sollten wir wirklich einen Ausbruch wagen – und diese Tat wird der Gegenseite einen Schlag ins Gesicht versetzen, von dem sie sich nicht mehr so leicht erholen wird -, dann müssen wir beide mit ganzem Herzen davon überzeugt sein.«

»Noch mal aha! Worauf willst du hinaus?«

»Wir müssen Zeugnis von unserer Vision ablegen. Dieser Kontrakt ist sozusagen ein symbolischer Akt. Dadurch dokumentieren wir unsere Verzweiflung, aber auch unsere Unbeugsamkeit für die Nachwelt. Ein Boxer steigt ja auch nicht in den Ring, bevor nicht ein anständiger Vertrag aufgesetzt wurde. Es soll so etwas wie unsere Unabhängigkeitserklärung sein.«

»Und was soll in diesem Kontrakt drinstehen?«

»An erster Stelle natürlich, daß wir als Verbündete unterschiedlicher Arten die Verständigung zwischen allen Arten fordern. Die direkte Kommunikation zwischen Mensch und Tier ist nachgewiesenermaßen möglich. Die Aufdeckung dieser Tatsache wird ungeheure Konsequenzen für die Menschheit nach sich ziehen – doch das soll uns nicht daran hindern!«

»Toll! Ich höre schon, wie die Sklaven ganz laut mit ihren Ketten rasseln, wenn sie von diesem Paragraphen Wind bekommen.«

»Genauso ist es. Dann kommst du ins Spiel.«

»Ich, Majestät?«

»Ja, du, Dude. Stellvertretend für alle Tiere auf diesem Planeten belegst du mit deiner Unterschrift deinen Willen, diesen Kampf bis zum bitteren Ende auszufechten. Du bist das Gesicht der Befreiungsbewegung und das Siegel. Warum? Weil du auserwählt bist. Ich habe im Laufe meiner Mission viele von deinesgleichen getroffen, die intelligent und smart genug waren, sich auf die Sache einzulassen. Doch entweder aus Teilnahmslosigkeit oder aus reiner Furcht haben sie sich stets davor gedrückt, den letzten Schritt zu tun und mit mir gemeinsam eine Revolution von solcher Tragweite zu starten. Sieh dir Efendi an. Du jedoch bist anders, willst gleich Nägel mit Köpfen machen. Du bist ein sehr starker Verbündeter.«

»Apropos Unterschrift«, unterbrach ich ihn. Ehrlich gesagt hatte ich nicht den blassesten Schimmer, warum der Kerl plötzlich von diesem Vertragsfimmel geritten wurde. Aber es war ja kein großes Geheimnis, daß Akademiker selbst ihre abstrusesten Ideen gern schwarz auf weiß sehen wollen. »Da gibt es doch diese Enthüllungen, wo Leute mal locker ihren Kaiser-Wilhelm auf ein Stück Papier gegen den Angelhaken-Mißbrauch von Regenwürmern verewigt haben, und dann wurde ihnen auf einmal eine Waschmaschine, ein Toupet aus Plastikhaaren, eine Gummipuppe im Afro-Design und eine saftige Rechnung geliefert.«

»Du hast Humor, Dude«, sagte Refizul und sah für einen Augenblick wirklich so aus, als hätte auch er Humor. Allerdings wirkte sein Lächeln so aufgesetzt wie bei einem Gebrauchtwagenhändler, der die röchelnde Rostlaube zum funkelnagelneuen Ferrari schönredet. »Humor ist ein Zeichen von Intelligenz. Und so hochintelligent, wie du bist, fragst du dich bestimmt, weshalb diese Unterschrift so wichtig sein soll. Sie ist es nicht. Und doch bedeutet sie in unserem Fall alles. Die Schrift, insbesondere jedoch die Beurkundung des eigenen Namens besitzt einen direkten Bezug zur Sprache. Jegliche Sprache mündet irgendwann in einer schriftlichen Form. Da aber nun gerade die Sprache der Gegenstand unseres Aufstands ist, kann auf die beiderseitige Unterschrift nicht verzichtet werden.«

»Zum dritten Mal aha!«

»Ein Vertrag wäre natürlich kein Vertrag, wenn nicht auch das Finanzielle darin geregelt wäre.«

»Wo du es gerade ansprichst, Refizul, also, es ist mir echt peinlich – aber bei mir ist nix zu holen.«

»Aber bei mir!« Er präsentierte diesmal ein ehrliches Lächeln. Seine Augen blitzten verheißungsvoll, als wären wir gerade auf einen Goldschatz gestoßen. »Auch wenn ich in diesem drolligen Nachthemd tatsächlich wie ein armer Irrer wirke, so bin ich mitnichten arm. Ganz im Gegenteil, ich verfüge über ein immenses Vermögen. Geerbt von den Ausbeutern, die sich meine Vorfahren nennen. Samt und sonders skrupellose Finsterlinge, die über Jahrhunderte hinweg nichts anderes getan haben, als zu raffen und ihre Mitmenschen zu übervorteilen. Ich bin Alleinerbe. Das viele Geld nützt mir natürlich in dieser Situation so viel wie Nasenbluten. Allerdings bedeutet es mir auch nichts. Ich müßte jahrelang mein Hirn darüber zermartern, wofür ich auch nur einen kleinen Bruchteil dieser Summe ausgeben könnte. Ich bin Asket. Deshalb sollst du, Dude, bei Vertragsunterschrift den ganzen Mammon erhalten.«

»Wieso?«

»Nun, als Ansporn, als Dank, als Wiedergutmachung für all das Leid, das wir Zweibeiner euch Tieren seit Ewigkeiten zugefügt haben. Such' dir irgendeinen Grund aus.«

»Aber wie stellst du dir das denn vor, Refizul? Glaubst du im Ernst, daß ich morgen zum Notar marschiere und die ganze Kohle einfordere? Mal abgesehen davon, daß der Anspruch eines Tiers auf ein Vermögen juristisch sicher einen einzigartigen Präzedenzfall darstellt. Freuen tut sich darüber höchstens eine Armee von Anwälten.«

»Stimmt. Aber es ist alles auf das einfachste geregelt. Das viele Geld schlummert auf einem Konto bei der Schweizerischen Nationalbank. Wer auch immer dort anruft und eine bestimmte Zahlen-Buchstaben-Kombination sagt, kann ohne Formalitäten und uneingeschränkt darüber verfügen.«

»Okay, ich opfere mich«, sagte ich. Langsam ging mir diese kuriose Vertragsverhandlung wirklich auf den Senkel. Daß der olle Refizul ein solcher Paragraphenreiter sein konnte, erstaunte mich doch sehr. Ich dagegen war im Geiste mit einer ganz anderen Sache beschäftigt. Allmählich spürte ich nämlich, wie eine Aufbruchsstimmung, jenes euphorische Hochgefühl kurz vor dem Zuschlagen, von jeder einzelnen meiner Körperzellen Besitz nahm. Es war unglaublich, welche Kräfte man entwickeln konnte, wenn man sich im Unrecht fühlte. Diese despotischen Herren Doktoren würden schon sehen, was es hieß, im Auftrage von sich unberührbar wähnenden Kreisen Jahr um Jahr Unschuldige zu malträtieren!

»Allerdings muß ich gestehen, daß ich mit Geld auch nicht viel mehr als du anzufangen weiß. Heißt es nicht: Geld verdirbt den Charakter? Solange es nicht meinen Magen verdirbt, nehme ich es gern, aber sonst habe ...«

»Ach, noch etwas«, unterbrach mich Refizul. Er gab sich mittlerweile das Gehabe eines mit allen Wassern gewaschenen Winkeladvokaten, der um Gottes willen bloß keinen Passus unerwähnt lassen will, weil auch nur ein einziger Flüchtigkeitsfehler später eventuell eine gigantische Schadenersatzforderung nach sich ziehen könnte. Mir waren all die Vertragsklauseln herzlich egal. Ich wollte endlich die »Aktion Spartakus« in die Tat umsetzen.

»Wenn du für die gute Sache tatsächlich einen unverbrüchlichen Bund mit meiner Wenigkeit eingehst, könnte es noch andere Vergünstigungen für dich geben.«

»Du meinst, zusätzlich zu der 100-Meter-Yacht mit Hubschrauberlandeplatz und den Mäusen am Spieß, bis der Arzt kommt?«

»Ja. Wie wäre es noch mit einem langen Leben?«

Jetzt schien der Typ echt abzuheben. Vermutlich verursachte die adrenalingeschwängerte Vorfreude auf den bevorstehenden Ausbruch einen gehörigen Sauerstoffmangel in seinem Gehirn.

»Warum nicht«, sagte ich wie nebenbei.

»Und wie wäre es mit Unsterblichkeit?«

»Klar, her damit! Und pack' noch ein saftiges Rumpsteak drauf. Können wir jetzt endlich loslegen, Refi?«

»Nein, noch nicht. Wir müssen erst den Vertrag unterzeichnen.«

Ich schaute zu ihm auf und erwartete, daß er ob des blühenden Unsinns, den er gerade von sich gegeben hatte, wieder in ein grölendes Gelächter ausbrechen würde. Pustekuchen! Refizul beachtete mich gar nicht und fixierte das offenstehende Zellengitter. Ich folgte seinem Blick und sah über meine Schulter. Dort an der Schwelle stand einer, an den ich mich noch allzu gut erinnerte. Es handelte sich um die schillerndste Figur des Irrentrios, das uns bei unserer Einlieferung so freudig in Empfang genommen hatte. Der Beinahe-Glatzkopf mit dem hauchdünnen Haarkranz und der gebrochenen und wieder schief zusammengewachsenen Nase machte den Eindruck eines herbeibeorderten Dieners. Alles Meschuggene schien inzwischen von ihm abgefallen. Obwohl auch er als Anstaltsuniform das lange Nachthemd trug und wie bei unserer ersten Begegnung bestialische Stinkwolken absonderte, wirke er nun wie die personifizierte Seriosität. Er hielt in der linken Hand eine derart abgewetzte braune Aktentasche, daß schon die hellen Fasern des Leders zum Vorschein kamen.

Refizul bedeutete ihm mit einem Kopfnicken näherzukommen. Der Glatzkopf begab sich zum Meister, zog aus der Tasche einen Stoß Papiere hervor, legte diesen auf ein in der Ecke stehendes Tischlein und trat dann zurück.

»Zeit für die Zeitenwende!« frohlockte Refizul und strich sich wohlig über die schulterlange Silbermatte. Ich sprang auf den Tisch und begutachtete im trüben Schein der Glühlampe das zuoberst liegende Papier. Ohne überheblich klingen zu wollen, kann ich mit Fug und Recht behaupten, daß ich ein ausgezeichneter Schriftkenner bin. Es gibt wohl keine noch so stilisierte Schreibe oder noch so erbärmliche Sauklaue, welche ihren Inhalt vor meinem fachkundigen Blick zu verbergen vermochte. Doch was mir jetzt vor die Glubscher kam, stellte selbst für mich eine unlösbare Herausforderung dar. Zwar sah der handgeschriebene Text auf dem stark ausgeblichenen, fleckigen Papier zunächst nach reiner Routine aus. Aber trotz angestrengter Entzifferungsversuche wollte sich partout keine Lesbarkeit einstellen. Die mit pechschwarzer Tinte aufgetragenen Buchstaben besaßen etwas seltsam Zackiges, als wären sie das Gekritzel einer nervös ausgeschlagenen Schreibnadel, und die einzelnen Wörter schienen wie ineinander verklumpt. Wenn ich es recht betrachtete, sah das Ganze wie rückwärts geschrieben aus. Wann hatte Refizul dieses Zeug verfaßt? Er hatte doch nicht wissen können, daß ich wirklich auf die abstruse Idee eines Kontraktes eingehen würde. Oder trug er das Schriftstück immer mit sich herum?

»Also wirklich, Refi, wer das lesen kann, ist ein Genie oder ein Telepath. Ich jedenfalls kann es nicht«, sagte ich.

»Das Lesen übernehme ich, wenn du es möchtest.« Er nahm die Papiere in die Hand und machte eine solch angestrengte Miene, als müsse er den furchtbar komplizierten Letzten Willen eines Korinthenkackers verkünden.

»Keine Zeit«, sagte ich knapp. »Zeig mir, wo ich mein Autogramm verewigen soll.«

»Erst bin ich dran!« Er zauberte einen Stift aus den Falten seines Hemdes hervor. Aber eigentlich war es gar kein richtiger Stift, sondern so etwas wie eine Kombination aus Stift, Brieföffner und Schaber. Das merkwürdige Ding funkelte golden und besaß ein schmales Design, das sich an einem Ende zu einer Art Füllfeder verjüngte und am anderen in ein zu kurz geratenes Rasiermesser auslief. Ohne mit der Wimper zu zucken, stieß Refizul sich das Schreibutensil mit der Spitze in den Arm, entnahm mit der Feder etwas Blut und setzte dann seine Unterschrift unter die letzte Seite des Vertrags. Wäre mir die menschliche Motorik zu eigen gewesen, hätte ich mir angesichts dieses unfaßbaren Vorgangs die Augen gerieben. Mir fehlten einfach die Worte.

»Übertreibst du es nicht ein wenig, Refi?« fragte ich, als ich die Sprache wiedergefunden hatte. »Ich meine, das Ganze sollte doch eher so etwas wie ein Motivationsritual sein und kein Blutbrüderschafts-Schabernack für Winnetou-Fans.«

»Im Gegenteil, in dieser Angelegenheit kann man nicht genug übertreiben, mein Lieber.« Seine Strahleaugen funkelten wieder feurig, und das Habichtgesicht mit der mediterranen Bräune wurde von unwillkürlichen Zuckungen heimgesucht. Der Raum war mit einem Male von einem unbeschreiblichen Geruch erfüllt, dem etwas Scharfes anhaftete. Fast kam es mir so vor, als ob sogar die schwache Glühlampe flackerte. Oder hatte sich eine schwarze Wolke vor den Vollmond geschoben, so daß das Silberlicht aus dem Kerker entwich wie ein Blatt weißes Papier, das durch den Spalt unter der Tür weggezogen wird? Wahrscheinlich war das alles nur pure Einbildung, verursacht durch die buchstäblichen irren Umstände. Wie aus weiter Ferne vermeinte ich eine hallende Stimme zu vernehmen, deren Wortlaut ich zwar nicht verstand, der jedoch etwas seltsam Warnendes innewohnte.

Unvermittelt wurde ich von der Seite gepackt und in den Klammergriff genommen, und da Refizul immer noch voll fickeriger Leidenschaft vor mir stand, konnte es sich bei meinem Bezwinger nur um den Beinahe-Glatzkopf handeln.

»Hey, das ist kein Spaß mehr, Refi!« rief ich.

»Ist es auch nicht, Dude. Halt still, es wird dir nichts passieren.«

Er beugte sich blitzschnell über mich. Danach spürte ich an der rechten Flanke meines Hinterns ein Kratzen und Ziehen und vernahm gleichzeitig ein schabendes Geräusch. Schnell war klar, daß er mich dort mit dem Rasierklingenende seines komischen Instruments barbierte. Die ganze Aktion tat seltsamerweise überhaupt nicht weh — bis es plötzlich doch höllisch weh tat. Ich schrie auf und warf ihm sämtliche Flüche an den Kopf, die mir in dieser unmöglichen Situation einfielen. Schließlich begann ich zu winseln und wollte wissen, was er da verdammt noch mal trieb.

»Ich mache dich gerade zum reichsten Tier der Welt, mein Freund!« erwiderte er gutgelaunt.

»Vielen Dank! Aber muß sich das unbedingt so anfühlen, als küsse mein Arsch gerade ein glühendes Bügeleisen?«

»Leider ja. Ich ritze die Zahlen-Buchstaben-Kombination in deinen Hintern. Die Wunden werden bald verheilen und dann markant vernarben, und binnen kurzer Zeit wird wieder dein hübsches Fell darüber wachsen. Doch falls du irgendwann etwas Kleingeld brauchen solltest, mußt du nur diese Stelle freilegen, anhand eines Spiegels den Code ablesen und übers Telefon die Summe einfordern.«

»Vielleicht sind diese Elektroschocks ja doch zu etwas nutze, Refi. Du machst ein Aufheben um die Sache, daß es in der Tat an Wahnsinn grenzt.«

Mit einem Mal hörte der große Schmerz auf, wobei der kleine Schmerz, ein leichtes Nachbrennen, weiterhin nachwirkte. Von völliger Schmerzfreiheit konnte also keine Rede sein, aber auch nicht davon, daß der alte Mann mit dieser schrulligen Maßnahme beabsichtigt hatte, mir wirklich weh zu tun. Sein glatzköpfiger Helfer setzte mich wieder auf dem Tisch ab. Aus den Augenwinkeln registrierte ich, daß er mit seinem seelenlosen Ausdruck und den eckigen Bewegungen einer ferngesteuerten Puppe ähnelte. Seine gnadenlose Einsilbigkeit und die wie unter Schock aufgerissenen Augen ließen mich frösteln.

Durch die Arschritzerei hatte sich neben dem Vertrag auf dem Tisch nun eine kleine Lache meines Blutes gebildet. Refizul ließ sein Stift-Ding in den Falten seines Nachthemdes verschwinden, wohlwissend, mit welcher Technik meinesgleichen seine Signatur aufzusetzen pflegt.

»Darf ich bitten«, sagte er und breitete vor mir das von ihm schon unterschriebene letzte Blatt aus. »Vergiß bitte nicht, die richtige Tinte zu benutzen.«

Obwohl mich ein mulmiges Gefühl plagte und mir schwante, daß jegliche schriftliche Manifestation des eigenen Ichs früher oder später Konsequenzen nach sich ziehen würde, klinkte ich eine Kralle der rechten Pfote aus und tunkte sie in die Blutlache. Über dem Papier hielt ich jedoch kurz inne. »Eigentlich sollte man ja keinen Vertrag unterschreiben, den man nicht gelesen hat. Aber ich vertraue dir, Refizul.«

»Das kannst du auch, mein Freund. Und weißt du, warum? Weil ich inzwischen fertig mit den Menschen bin. Die letzte Schlacht dreht sich nur noch um euch – die Tiere.«

Das ergab genausowenig Sinn wie dieser blöde Vertrag. Aber da ich den Ausbruch nicht mehr abwarten konnte und Refizul wirklich etwas von einem Geschäftsmann hatte, der einen so lange mürbe labert, bis man gar nicht mehr anders kann, als auf sein Angebot einzugehen, schritt ich zur Tat. Neben seiner Unterschrift kritzelte ich mit der Kralle das Wort »Dude« und zog noch eine abenteuerliche Schleife darunter. Ich glaubte, daß ich den liebenswürdigen Geschöpfen, die mir das Leben gerettet hatten und jetzt allesamt tot waren, damit ein Denkmal gesetzt hätte. Und doch spürte ich bei diesem Akt einen Stich im Herzen, geradeso, als hätte ich hinter mir eine Tür zugeschlagen, die sich niemals mehr würde öffnen lassen.

Ein Radau brandete hinter meinem Rücken auf, und für einen Augenblick kam es mir tatsächlich so vor, als hätte ich mit meiner Unterschrift eine Bombe entzündet. Ich fuhr erschrocken herum und wurde mit einer bizarren Szene konfrontiert. Die Anstaltsinsassen und ihre spitzohrigen Betreuer vor dem Zellengitter spendeten uns Beifall. Die einen durch Klatschen und Bravo-Rufe aus ihren fast zahnlosen Mündern, die anderen durch ohrenbetäubendes Miauen. Seltsam war nur, daß ihnen auf einmal nicht die Spur von Verrücktheit anhaftete, im Gegenteil, sie vermittelten alle den Eindruck von Erlösten. Wenn man sich die Umstände und diese albernen Nachthemden wegdachte, hätte das Ganze auch ein hübsches Foto aus der Werbebroschüre eines Fünf-Sterne-Altersheims abgeben können. Allein der rabenschwarze Efendi, der in der vordersten Reihe stand und das Spektakel unaufgeregt über sich ergehen ließ, stimmte in den Jubel nicht ein. Er suchte gezielt den Augenkontakt zu mir, und als ich seinen Blick erwiderte, war seine Botschaft eindeutig: Was hast du nur getan?!

Ich fühlte mich nun bemüßigt, eine kleine Rede zu halten, eine von der Sorte, welche den Geknechteten die Revolution schmackhaft machen und sie zum Guillotinieren des Adels anstiften sollte. Deshalb wandte ich mich zum Publikum, nahm auf dem Tischchen eine dramatische Pose ein und gestikulierte kämpferisch mit den Vorderpfoten.

»Liebe Freunde, geschätzte Kollegen«, begann ich. »Niemand wird zum Sklaven geboren, und noch der wirrste Geistesgestörte verdient es nicht, in dieser Jauchegrube wie die letzte Bazille zu leben. Ich weiß, daß ihr einst honorige Leute wart, die für eine edle Sache gekämpft haben. Und was euch betrifft, Artgenossen, so ist euer Bemühen, durch eure Anwesenheit das Leiden dieser Bemitleidenswerten zu lindern, sicher lobenswert. Aber wer sich freiwillig als Arznei eines bösen Arztes einsetzen läßt, der macht letzten Endes gemeinsame Sache mit ihm. Ich denke, es ist nun an der Zeit, diesen jämmerlichen Zustand zu beenden. Er hat schon zu lange gedauert. Deshalb werden wir gleich einen Ausbruchversuch wagen. Werft eure Lethargie und eure Ängste über Bord und freut euch auf die Freiheit. Glaubt mir, selbst der Tod für sie ist lohnender als ein Leben ohne sie!«

Kein tosender Beifall brandete auf, kein euphorisches Miauen erschallte, und auch sonst deutete bei den vor der Tür Versammelten nichts darauf hin, daß sie inzwischen das revolutionäre Rot zu ihrer Lieblingsfarbe erklärt hätten. Sie glotzten mich alle an, als hätte ich einen Witz erzählt, dessen Pointe nicht gezündet hat. In einigen Gesichtern vermeinte ich sogar Ansätze von Mißbilligung zu erkennen.

Bis plötzlich doch ein einsames Klatschen erklang. Sehr heftig sogar. Ich drehte mich um und sah, wie Refizul mir voller Begeisterung Beifall zollte. Dabei lachte er schallend auf, so daß sein nikotinbraunes Gebiß zu sehen war, und vollführte auch sonst solch ekstatische Verrenkungen, als hätte soeben John F. Kennedy aus dem Grab heraus seine berühmte Berlin-Rede noch einmal zum besten gegeben. Zeitverzögert stieg der Beinahe-Glatzkopf neben ihm in das Geklatsche ein, was allerdings etwa so aussah, als würde eine Marionette mit ihren Gliedern klappern. Jetzt auf einmal zog das niedere Volk mit. Lauter Applaus ergoß sich abermals in den Trakt, Arme reckten sich verzückt in die Höhe, Fäuste und Pfoten wurden wütend geballt, und Kampfrufe wie »Nieder mit der Sklaverei!« und »Freiheit! Freiheit!« wurden gebrüllt. Ich heizte die Stimmung zusätzlich an, indem ich mich auf die Hinterbeine stellte, gleich einem Dirigenten in äußerster Aufwallung wild die Vorderpfoten schwang und freiheitliche Parolen grölte.

Als die Welle endlich abgeebbt war, trat Efendi ein paar Schritte vor die anderen und schaute mir mit coolem Ausdruck geradewegs ins Gesicht. »Und jetzt, Alder?«

Ich mußte gestehen, daß ich über das weitere Vorgehen keinen ausgefeilten Plan in der Schublade hatte. Besser gesagt, ich besaß überhaupt keinen Plan. Doch hielt ich mich nicht von ungefähr für den König der Improvisation. »Nun, wir brechen einfach aus!« verkündete ich im aufpeitschenden Tonfall des Anführers.

Efendi lächelte müde. »Geniale Idee, Alder. Wenn du nur noch die Freundlichkeit hättest, uns zu verklickern, wie wir das genau anstellen sollen. Die Fenster sind vergittert und alle Türen mit Eisenriegeln und Monsterschlössern abgesperrt, und zwar mehrfach. Die Mauern sind so dick wie bei einem Weltkrieg-Zwo-Bunker, und last not least wäre da auch noch das bißchen Wasser da draußen, das nach allen wissenschaftlichen Erkenntnissen ziemlich naß sein dürfte.«

Mann, der Kerl konnte auch wirklich ein Spielverderber sein! Ich überlegte angestrengt, was zugegebenermaßen vor der versammelten Mannschaft nicht gerade einen eleganten Eindruck machte. Es mußte mir schnell etwas einfallen, wenn ich mich jetzt nicht bis auf die Knochen blamieren wollte. Schließlich spürte ich im Nacken Refizuls fordernden Blick. Der Alte hatte allen Grund zur Ungeduld, hatte er sich doch erst wegen meiner großen Schnauze zum »Projekt Spartakus« hinreißen lassen.

Endlich keimte eine Erinnerung in mir auf, der Groschen fiel, und ich wähnte mich im Besitz der einzig möglichen Lösung. »Wenn Mauern und Schlösser nicht nachgeben wollen«, rief ich in die Menge, »dann müssen wir sie eben zum Verschwinden bringen! Folgt mir!« Mit diesen Worten sprang ich vom Tisch und rannte wie der Blitz zwischen den Beinen der Greise und an den verdutzt dreinschauenden Artgenossen vielfältiger Rassen und Fellfarben vorbei auf den Korridor. Das Getrampel von sandalenbestückten Füßen, erregtes Miauen und ein kurzer Blick zurück bestätigten mir, daß die ganze Bande mir dicht auf den Fersen blieb. Von Zack und dem Panzermann war nirgends etwas zu sehen, und da die Tür zum Rest des Gebäudes offenstand, schlüpfte ich mit einem Satz in die labyrinthischen Gänge. Schnell hatte mich die Entourage aus schmutzigen Nachthemden und phosphoreszierenden Augen eingeholt, und gemeinsam verloren wir uns in den Eingeweiden der Anstalt. Allein der Vollmond, der sein silbriges Licht hier und da durch schießschartenkleine Fenster warf, sorgte für ein wenig Aufhellung. Ich vergegenwärtigte mir die Strecke, die ich zurückgelegt hatte, als ich Refizul zu seiner Elektroschock-Folter gefolgt war. Obwohl ein düsterer Flur auf den nächsten folgte und miefige Räume voll vorsintflutlichem Gerümpel in Serie unseren Weg kreuzten, tat mein inneres Navigationssystem seinen Dienst.

Dann endlich kamen wir zu den schlachthausartigen Kammern mit vierteiligen Kreuzrippengewölben, welche an schwarzweiße Horrorfilmszenarien gemahnten. Dort lagerten medizinische Geräte und Utensilien, die wohl noch aus der Zeit von Professor Sauerbruch stammten. Von Spinnweben und Mäuseschiß überzogene Narkose-Apparaturen mit brüchigen Schläuchen, riesige, grau emaillierte OP-Lampen, gleich mehrere zylinderförmige, offensichtlich defekte Geräte für die Elektroschock-Therapie, sonderbar verbogene und völlig stumpf gewordene chirurgische Instrumente, zu kleinen Hügeln gestapelte Zwangsjacken und Patientenliegen mit aufgeplatzter Polsterung füllten die Kammern. Daneben wurde aber auch keine geringe Anzahl von länglichen, längst verrosteten Gasflaschen aufbewahrt, die vermutlich Lachgas, Narkose- und andere Gemische beinhalteten. Sie sahen aus wie vergessener Raketenschrott einer längst aufgegebenen Waffenfabrik. Bereits bei meinem ersten Erkundungsgang waren mir die Dinger aufgefallen.

»Schraubt die Ventile aller Gasflaschen auf!« rief ich, während ich der Befreiungsarmee vorauseilte. Von geradezu beispielloser Befehlshörigkeit taten die zahnlosen Alten, wie ihnen geheißen, machten sich sofort über die Gasflaschen her und drehten die Verschlüsse auf. Was sich infolge von Oxydation und Zersetzung nicht mehr öffnen ließ, wurde mittels eines aus dem Gerümpel gefischten, gewaltigen Schraubenschlüssels oder Hammers kurzerhand von der jeweiligen Flasche abgeschlagen. Ich rannte weiter, und in jedem Raum, in dem Gasflaschen standen, gab ich brüllend immer die gleiche Parole aus: »Laßt das Gas heraus!« Es wunderte mich zwar, daß die Kopfgestörten, welche ein paar Stunden zuvor noch mit toten Angehörigen oder einfach mit der kahlen Wand Zwiegespräche geführt hatten, nun plötzlich zu Werke gingen wie findige Ingenieure, doch maß ich dieser Beobachtung in der Hitze des Gefechts keine besondere Bedeutung zu.

Schließlich erreichten wir den Raum, wo Refizul die Folter hatte über sich ergehen lassen müssen. Das Verlies beherbergte altmodische Gerätschaften, die eher dem Arsenal eines Geheimdienstes aus den Fünfzigern zuzuordnen waren als der modernen Medizin. Bei meinem ersten Besuch waren mir die trüben, tresorähnlichen Kästen mit klobigen Schaltern und tischtennisballgroßen Dioden und Drehknöpfen, die von einer ganzen Hand umfaßt werden konnten, gar nicht aufgefallen. Harte Untersuchungsliegen, an deren Seiten an Schraubstöcke erinnernde Lederfesseln für Hand- und Fußgelenke angebracht waren, rundeten das düstere Bild mit dem Charme eines Alptraums ab. Auf einer der Liegen befand sich die Elektroschock-Zange. Auf dem Boden stand immer noch der volle Eimer mit Wasser, das zum Leitendmachen des Patienten benutzt worden war. Auch hier lehnten zwei Gasflaschen an der Wand.

Mein penibler Vertragspartner tauchte plötzlich neben mir auf, und sein seelenwunder Gesichtsausdruck verriet, daß vor seinem geistigen Auge gerade ein Film ablief, der nur sinnlose Qualen und ein verschwendetes Leben zum Inhalt hatte.

»Kennst du dich mit dem Ding aus?« wollte ich wissen. Ich deutete mit der Schnauze zu der Grauensapparatur, die mit der Zange verbunden war.

»Was für eine Frage! Das hier ist mein Wohnzimmer und das Ding meine alte Geliebte, die leider ziemlich sadistisch veranlagt ist.«

»Kannst du es so umfunktionieren, daß es erst, sagen wir mal, in einer Minute anspringt?«

»Wozu? Die Technologie stammt aus der Bronzezeit. Der Kasten muß sich erst aufladen und erreicht die höchste Stromkapazität ohnehin erst nach einer Minute.«

»Perfekt! Dann besorg dir schnell irgendwelche Stofffetzen. Die rollst du zu einem Bündel, tunkst das dort ins Wasser, legst es auf die Liege und klammerst die Elektrozange dran.«

Er stutzte. »Ein kaum nachvollziehbarer Befehl, General. Aber was soll's, als kleiner Soldat hat man eh nichts zu melden.«

Ich hatte gedacht, daß sich die Sache mit den Stoffetzen besonders kompliziert gestalten würde. Weit gefehlt, denn der kleine Soldat schien mit weit mehr Phantasie gesegnet als der General. Ohne große Umstände griff Refizul zum Rock seines Nachthemdes und riß ihn in Streifen. Dabei blinzelte er mir mit einem ironischen Lächeln zu, als wüßte er ganz genau, was ich vorhatte. Am Ende hatte er so viele Stoffstreifen abgerissen, daß das Nachthemd wie ein Fransenrock aussah. Refizul schnürte die Streifen zu einem Ballen, der eine täuschende Ähnlichkeit mit einem bandagierten Kopf besaß, tauchte das Gebilde in den Eimer mit Wasser, stellte es auf eine Liege und stülpte die Elektrozange darüber. Das Resultat wirkte etwa so, als würde sich eine Mumie über Kopfhörer den aktuellen Ramses-Hit reinziehen.

»Gut gemacht!« sagte ich. »Jetzt schraubst du die Verschlüsse der Gasflaschen auf, schaltest das Gerät ein und fängst an zu beten, daß wir hier herauskommen, bevor wir uns selbst zu Gas transformieren.«

»Aus Gründen, die zu erklären zu lange dauern würde, habe ich eine Aversion gegen das Beten!« Er ließ das Gas aus den Flaschen entweichen, betätigte den Hauptschalter der Schock-Maschine und legte den großen Hebel um. Lichter fingen an zu blinken, und sofort erfüllte ein enervierendes Brummen den Raum. Wir traten gemeinsam nach draußen vor die anderen Aufständischen, die uns mit vielen Fragezeichen in den Gesichtern anglotzten.

»Na los, worauf wartet ihr noch!« rief ich. »Bringt euch auf dem Hauptkorridor in Sicherheit, bevor uns hier alles um die Ohren fliegt!« Sofort setzte eine panikartige Flucht ein, diesmal in umgekehrter Richtung. Wieder durchquerten wir die mit medizinischem Schrott vollgestopften Kammern und düsteren Gänge, jetzt allerdings im Schweinsgalopp. Die aus den Flaschen ausgetretenen Gase hatten sich inzwischen zu einem teuflischen Gemisch vereinigt und bis in den kleinsten Winkel dieses Teils der Anstalt ausgebreitet. Die Luft roch verdammt schlecht, sie war verdammt explosiv und verursachte Würgreflexe. Es glich einem Wunder, daß wir selbst beim zeitrafferartigen Passieren der Räumlichkeiten nicht einer Vergiftung zum Opfer fielen. Sicherlich hatten es meinesgleichen, die knapp am Boden Fersengeld gaben, etwas angenehmer als die Zweibeiner oben, wo sich das Gas wie eine Todeswolke am dichtesten zusammengebraut hatte. Doch wenn man diese ungesunde Tatsache für einen Augenblick vergaß, konnte man dem Anblick der um die Wette flitzenden Greisenolympioniken und den Fellknäueln mit Glasmurmelaugen auch etwas Komödiantisches abgewinnen.

Dann jedoch hörte der Spaß auf. Ein Donnern, das wie das Feuerbrüllen eines Drachen klang, ertönte auf halber Strecke aus dem Teil des Gebäudes, in dem sich die Folterkammer befand. Ich wußte Bescheid: Wie geplant hatte die finale elektrische Entladung aus der Zange am nassen Stoffbündel Funken geschlagen und dadurch das Gas entzündet. Gleich drauf war ein weiteres beängstigendes Geräusch zu vernehmen. Man hätte annehmen können, daß der Feuerdrache nun kreischte. Vermutlich hatte die Explosion die oberen Stockwerke und schließlich das Dachsegment zum Einsturz gebracht. Dann ging es Schlag auf Schlag. In einer Kettenreaktion flog in schneller Folge ein gasumwölkter Raum nach dem anderen mit monströsem Getöse in die Luft. Unter unseren Pfoten und Füßen begann es stark zu beben, und um uns taten sich tiefe Risse im Mauerwerk auf. Nun rannten wir um unser Leben, denn eine Explosion zog die nächste nach sich. Eine Feuerwalze unglaublichen Ausmaßes rollte auf uns zu.

Kurz riskierte ich einen Blick zurück, ohne innezuhalten. Wäre mein Selbsterhaltungstrieb auch nur eine Spur schwächer gewesen, hätte mir das, was ich in diesem flüchtigen Moment sah, leicht den Verstand rauben können. Hinter mir tobte ein Inferno biblischer Dimension. In gar nicht so weiter Ferne verschlang ein riesiger Feuerball alles, was in seiner Nähe lag. Hinter uns krachten Mauern, ganze Stockwerke und das Dach zusammen, bis sich der silbrige Vollmondhimmel auftat.

Doch selbst dieses üble Katastrophenszenario war noch steigerbar. Plötzlich schoß aus der Feuersbrunst mit einem lauten Schwirren eine Feuerwerksrakete gen Firmament. Nein, bei genauerem Hinsehen handelte es sich bei dem Flugobjekt nicht um eine Feuerwerksrakete, sondern um einen am ganzen Leib brennenden und dabei wild mit den Armen rudernden und fürchterliche Schreie ausstoßenden Menschen. Ich wußte sofort, daß diese menschliche Fackel einer der jungen Ärzte sein mußte, die Refizul noch vor wenigen Stunden so zugesetzt hatten. Dr. Gabriel vielleicht oder Dr. Michael oder Dr. Raphael oder einer der anderen beiden. Ich kämpfte gerade mit dem moralischen Dilemma, ob solch grausamer Tyrannentod gerechtfertigt war, da stieg aus der Feuersbrunst die nächste lodernde Gestalt himmelwärts. Sie zappelte mit brennenden Gliedern, kreischte und krähte und plumpste dann wie ihr Vorgänger aus einer Höhe von etwa fünfzig Metern in einem weiten Bogen in den schwarzen See. Im Anschluß daran folgten die anderen drei. Wie von einer Kanone abgefeuerte Geschosse tauchten sie aus dem Explosionsherd auf, wurden mit unglaublicher Geschwindigkeit in den Sternenhimmel katapultiert, um dann in ebenso rasender Geschwindigkeit ins Wasser zu stürzen.

Langsam wurde mir klar, welche Hölle ich heraufbeschworen hatte. Es war offensichtlich, daß wir in wenigen Sekunden allesamt in Flammen aufgehen würden. In der Absicht, dem Tyrannen zu entkommen, drohte uns jetzt das eigene Leben abhanden zu kommen. Mit letzter Not erreichten wir den Zellentrakt, als hinter uns die bislang stärkste Detonation erfolgte. Das Gedröhne war so laut, daß meine Trommelfelle kurzzeitig ihren Dienst versagten. Ein gewaltiger Ruck ging durch den noch stehenden Teil des Gebäudes, und plötzlich brach wie durch ein Wunder die komplette linke Mauer in sich zusammen. Ein Schauer aus kleinen Steinen ging auf uns nieder, und augenblicklich war der Ort von einem Staubnebel eingehüllt. Derweil rollte die Feuerwalze von hinten immer näher an uns heran.

»Los, raus hier!« schrie ich. »Springt ins Wasser und versucht, ans andere Ufer zu schwimmen!«

Das ließen sich die Alten und ihre vierbeinigen Freunde nicht zweimal sagen. Wir stürzten über die weggebrochenen Mauerreste und eilten in Richtung Wasser. Mit einem Seitenblick sah ich, wie Refizul sich Efendi auf die Schulter setzte und über das kurze Stück Gras zum See lief. Ich selbst war dort schon angekommen und machte ohne große Umschweife sofort die Bekanntschaft mit dem nassen Element. Mit allen vieren trat ich wild das Wasser und bemühte mich, so etwas Ähnliches wie Schwimmbewegungen zu vollführen. Aber trotz der brenzligen Lage nagte immer noch die Neugier in mir, und ich drehte den Kopf, um einen letzten Eindruck von dem Inferno zu erhaschen. Dort, wo die seltsame Irrenanstalt einmal gestanden hatte, war nur noch ein Feuermeer zu sehen, aus dem die gesprengten Gebäudefundamente wie dämonische Zähne ragten. Am beeindruckendsten war dabei das Portal, durch das wir bei unserer Ankunft gegangen waren. Es stand ohne jegliche seitliche Abstützung einfach da und brannte lichterloh. Die ungeheure Hitze schien die gemeißelten Köpfe, Fratzen, Torsos, Tiergestalten und gruseligen Mythenwesen in der Einfassung zum Leben erweckt zu haben. Nach ihrem gequälten Aussehen zu urteilen, waren sie immerwährend von Schmerzen durchdrungen. Doch nun kam es mir so vor, als wanden sie sich in dem Höllenfeuer, schrien und wehklagten, und als würden sie uns anflehen, sie mitzunehmen.

Mein Blick streifte weiter und wurde zum Finale mit dem Allergrausigsten konfrontiert. Zack und der Panzermann standen am Ufer und starrten uns reglos nach. Das heißt, ich nahm an, daß sie es waren, denn die beiden Gestalten brannten lichterloh am ganzen Körper, als hätten sie vor Ausbruch des Feuers eine Kerosindusche genommen. Nichtsdestotrotz hielten sie still, fixierten uns mit flammenden Augen, in denen es rubinrot glühte. Ihr Blick brannte sich im wahrsten Sinne des Wortes unauslöschlich in mein Gedächtnis ein. Irgendwann kippten sie schließlich um. Gleich darauf erfolgte die stärkste Explosion. Das Kloster oder was von ihm noch übrig war löste sich mit einem gigantischen Knall endgültig in tausend umherfliegende Gesteinsbrocken auf, wobei aus der Mitte der Insel grelle Leuchtstreifen in Form eines Blumenbuketts in den Himmel schossen. Ich hatte vielleicht eine fragwürdige, aber zweifellos ganze Arbeit geleistet!

Mein Blick glitt nach vorne, und mit einem Mal bemerkte ich einen markanten Kontrast zwischen der Lage des Anführers der Befreiungsaktion und der der Befreiten. Letztere hatten sich jeweils einen ihrer spitzohrigen Lieblinge auf die Schulter gepackt und schwammen in aller Seelenruhe zum gegenüberliegenden Ufer. Der Mond beschien ihre kahlen Köpfe und schlohweißen Haare mit seinem hellen Licht, und wenn man das kleine Feuerwerk von eben ausblendete, hätte man sich der Illusion hingeben können, einem Haufen rüstiger Senioren beim Nachtschwimmen zuzuschauen. Ich dagegen hatte plötzlich ein riesiges Problem. Und es war echt schwer, dieses Problem all den gutgelaunten Nachtschwimmern zu vermitteln, weil der Abstand zwischen uns schon eine gute Strecke betrug und sekündlich größer wurde. Ich konnte nicht schwimmen!

Bisher hatte ich zwar mit der heftigen Pfotentreterei so getan, als könne ich mich über Wasser halten, und irgendwie war mir das auch tatsächlich gelungen. Allerdings merkte ich nun, daß es sich dabei um nichts weiter als um eine Kombination aus Selbsttäuschung und einem Überschuß an Adrenalin handelte. Da half mir auch das Wissen wenig, daß meine Art eben nicht zum Schwimmen geboren war. Es gab keinen Zweifel, trotz der erträglichen Wassertemperatur tauchte mein Kopf immer öfter unter, die Beine machten schlapp, und meine Kräfte ließen merklich nach. Ich begann schwer zu atmen und blickte mich nach Refizul um. Kein Refizul weit und breit! Noch schlimmer, die übrigen knöchrigen Nachtschwimmer hatten sich inzwischen so weit von mir entfernt, daß ich sie allein am Schimmer ihrer ergrauten Haare in der Ferne ausmachen konnte.

Ich wollte einen Hilferuf ausstoßen, als mir jäh ein Schwall Wasser ins Maul schwappte. Die letzten Reserven neigten sich dem Ende zu, und das Wasser in meiner Luftröhre verursachte ein heftiges Husten. Daraufhin rutschte mein offenes Maul erneut unter Wasser, so daß ich noch mehr vom selbigen schluckte. Ich wollte mich umdrehen, um abzuschätzen, ob der Weg zurück zur Insel vielleicht eine größere Überlebenschance bot. Doch dazu kam es nicht mehr. Mit einem Mal war mein Kopf ganz unter der Wasseroberfläche, der aussichtslose Versuch, durch Husten das Wasser aus der Luftröhre zu bekommen, bewirkte das Gegenteil, und ehe ich mich versah, bekam ich keine Luft mehr. Der See durchspülte Nase, Rachen, Lunge, mein gesamtes Inneres, und ich ertrank.

Langsam sank ich nieder, während ich dumpf spürte, wie immer mehr grünlich schimmerndes Naß in mich flutete. Über mir verwandelte sich der Silbermond durch die sanfte Bewegung der Wellen zu einem unförmigen, hellen Fleck, der immer wieder für Sekundenbruchteile seine perfekte Kreisgestalt zurückerlangte. Entwurzelte Schlingpflanzen, abgestorbene Blätter und Abermilliarden von winzigsten Schmutzpartikeln schwebten an mir vorbei. Ich war mir nicht sicher, ob ich das Bewußtsein verloren hatte oder ob mich schon erste Trugbilder eines Nahtoderlebnisses heimsuchten. Jedenfalls kehrte plötzlich eine merkwürdige Ruhe in mich ein – vermutlich wie bei jedem Sterbenden. Ich richtete den Blick nach unten. Ach, wie schön! Grüne Hügel und Täler wurden von Fischschwärmen umspielt, die ich zu meinen lebendigen Zeiten mit Wonne verschlungen hätte. Nun genoß ich die Aussicht. Lichtspiegelungen huschten wellenartig über Unterwasserdünen, eine sich romantisch im Strom wiegende Flora lud mich zum Verweilen ein, und da und dort erinnerte mich ein bis zur Unkenntlichkeit verrostetes Fahrrad an mein eigenes jüngstes Schicksal. Allmählich erreichte ich den Grund des Sees, und ich blickte in einen beeindruckenden Miniatur-Canyon aus emporragenden Felsen. Und sah die sich mir entgegenstreckenden Menschenarme dazwischen!

Obwohl ich vielleicht tot, halbtot oder schon ganz tot war, wurde ich von einem Schauer durchschüttelt und begann wieder wild zu strampeln. Hatte sich das Jenseits anfangs recht einlullend gegeben, so zeigte es jetzt sein wahres Gesicht. Darauf konnte ich herzlich verzichten. Doch ein unheimlicher Sog riß mich kontinuierlich abwärts, so daß ich immer mehr in das Schattenreich der Felsen geriet. Langsam wurden die zu den Armen gehörenden menschlichen Leiber sichtbar. Es war unfaßbar: Auf dem tiefsten Grunde des Sees und wie bei einer Ballettchoreographie in einer Reihe aufgestellt, blickten mich die Doktoren Gabriel, Michael, Raphael, Uriel und Raguel vorwurfsvoll an. Die Feuerwerksnummer von eben schien sie keinen einzigen Kratzer gekostet zu haben, und von irgendwelchen Verbrennungen konnte nicht einmal ansatzweise die Rede sein. Sie steckten in ihren weißen Kitteln, die jedoch wegen der Düsternis hier unten moosgrün flimmerten. Ihre einst akkurat gescheitelten Frisuren waren unter Wasser völlig aus der Fasson geraten. Die einzelnen Haare standen ihnen zu Berge und schwankten wie in Zeitlupe hin und her. Die Gesichter zeugten allerdings von einer tatsächlichen Totenblässe, und die aufgerissenen Augen hätten ebenfalls die von Leichen sein können. Offenkundig hatte ich es mit Unterwasser-Zombies zu tun.

»Glaubst du wirklich, ein wertvolles Werk vollbracht zu haben, Francis?« fragte Gabriel mit hallender Stimme, während ich über ihm schwebte. Ich bemerkte, daß nicht eine einzige Luftblase seinem Mund entwich. Er und seine Kollegen mit ihren wie zum Gebet hochgestreckten Armen hätten glatt bei Madame Tussauds als Vorgruppe auftreten können.

»Francis? Wer ist Francis? Ich heiße Dude«, erwiderte ich. Offenkundig war auch ich inzwischen mit der Gabe gesegnet, unter Wasser sprechen zu können. »Und ja, ich glaube durchaus, daß ich das Richtige getan habe. Irgendwer mußte euch Leuteschindern Einhalt gebieten. Jetzt seid ihr tot, und ich bin tot. Aber der Gerechtigkeit ist Genüge getan. Endlich werden sich Tiere und Menschen durch eine gemeinsame Sprache verstehen und in Harmonie zueinanderfinden.«

Dr. Gabriel versuchte ein mechanisches Lächeln. Es sah aus, als würde man einer Eisstatue Elastizität beibringen. »Interessante Theorie. Das war es also, was das Tier bisher vom Menschen trennte, die Sprache. Ich sage dir, mein Freund, keine Sprache des Universums wird Mensch und Tier je zusammenbringen. Weil es da nämlich einen weit bedeutenderen Unterschied zwischen ihnen gibt. Aber das wirst du im Laufe deines langen Lebens noch ganz von selbst herausfinden, Francis. Vorerst jedoch solltest du dir ein paar Gedanken darüber machen, mit wem du dich überhaupt eingelassen hast.«

»Mit einem armen Irren, der einen großartigen Traum träumt«, sagte ich trotzig.

»Träum weiter!« sagte Dr. Gabriel und schoß plötzlich gemeinsam mit seinen Zombie-Kollegen delphinartig zwischen den Felsen zu mir hoch. Ehe ich mich versah, packten mich zehn Hände von allen Seiten und beförderten mich nach oben. Man hätte an eine Baywatch-Rettungsaktion von grotesken, weiß bekittelten Nixen denken können. »Wenn du aus dem Traum aufwachst, mach dir mal ein paar Gedanken darüber, was du da vorhin unterschrieben hast. Ich gebe zu, wir hatten nicht mehr damit gerechnet, daß der Alte noch einen so starken Verbündeten an Land zieht. Daß er einen Auserwählten findet. Und würden wir deinen glorreichen Lebenslauf nicht kennen und den freien Willen nicht so sehr respektieren, hätten wir gleich kurzen Prozeß mit dir gemacht. Wie dem auch sei, den Schlamassel, den du angerichtet hast, mußt du ganz allein wieder bereinigen, mein Freund. Denn wenn du es nicht tust, wird er dir irgendwann auf den Kopf fallen. Du wirst dafür bezahlen müssen, mit deinem eigen Fleisch und Blut!«

Ich sah den Silbermond auf der Wasseroberfläche allmählich größer und größer werden. Er leuchtete in seiner ganzen Pracht und strahlte wie eh und je Hoffnung auf bessere Tage aus. Und doch dämmerte es mir allmählich, daß dieser Mond nun nicht mehr der gewohnten, alten Welt angehörte, sondern einer vollends veränderten.